Wien säuft: und zwar kultiviert

17/6/2025

Andere Städte haben Fabriken. Wien hat Weinberge. Während in München BMW-Motoren brummen und in Stuttgart Mercedes-Sterne glänzen, wachsen in der österreichischen Hauptstadt Reben. Mitten in der Stadt. 700 Hektar. Das ist mehr, als manches Bundesland aufzuweisen hat.

Wien ist die einzige Millionenstadt der Welt mit nennenswertem Weinbau. Diese Tatsache allein rechtfertigt eine Reise. Denn hier verbindet sich, was anderswo getrennt lebt: Urbanität und Rustikalität, Hochkultur und Heurigenseligkeit, Oper und Operette des Lebens.

Wer morgens im Café Central Melange trinkt und abends im Grinzinger Heurigen Grünen Veltliner, der hat Wien verstanden. Diese Stadt lebt von Gegensätzen, die keine sind. Sie sind zwei Seiten derselben Medaille: der Wiener Lebenskunst.

Als die Römer kamen

Anno 15 vor Christus gründeten die Römer Vindobona. Der Name verrät alles: Vindo bedeutet weiß, bona gut. Guter weißer Wein also. Die Römer wussten, was sie taten. Sie brachten nicht nur Straßen und Thermen, sondern auch Rebstöcke mit. Ein Geschenk, das bis heute nachwirkt.

Kaiser Marcus Aurelius residierte hier, schrieb seine "Selbstbetrachtungen" und trank vermutlich Wiener Wein. Ob er ihn schätzte, ist nicht überliefert. Aber er blieb länger als geplant. Das spricht für den Wein oder gegen die Barbaren vor den Toren. Vermutlich für beides.

Die Völkerwanderung fegte über Europa hinweg, Wien überlebte. Mit seinen Weinbergen. Im Mittelalter übernahmen Klöster die Regie. Stift Klosterneuburg, heute vor den Toren Wiens gelegen, entwickelte systematischen Weinbau. Die Mönche selektierten, experimentierten, perfektionierten. Ihre Methoden gelten teilweise noch heute.

Die Habsburger machten aus lokaler Tradition Reichspolitik. Kaiser Joseph II. erließ 1784 die berühmte Zirkularverordnung. Seither darf jeder Weinbauer seinen eigenen Wein ausschenken. Bedingungen: Nur eigener Wein, nur kalte Speisen, nur solange der Vorrat reicht. Diese Regeln schufen die Heurigen, wie wir sie kennen.

Der grüne Zweig über der Tür signalisiert: Hier ist ausgeschenkt. Diese Tradition überlebte Napoleon, zwei Weltkriege und die Tourismusplage. Sie wird überleben, solange Wien Wien ist.

Heute bewirtschaften 180 Betriebe die Wiener Weinberge. Klein, aber fein. Der Durchschnittsbetrieb umfasst vier Hektar. Familienbetriebe dominieren, Großindustrie gibt es nicht. Das prägt Qualität und Charakter der Weine.

Die Rebsorten: Was Wien trinkt

Grüner Veltliner herrscht. Er bedeckt die Hälfte der Wiener Rebfläche, gedeiht prächtig im pannonischen Klima, schmeckt nach weißem Pfeffer und Wiese. Kein Wein ist österreichischer, keiner wienerischer. Er wird auch gerne blindverkostet bei der Weinverkostung Wien.

Riesling folgt auf Platz zwei. Hier zeigt er sich von seiner eleganten Seite: mineralisch, rassig, langlebig. Wiener Riesling altert jahrzehntelang, gewinnt dabei an Komplexität und Tiefe.

Chardonnay erobert Terrain. Früher verpönt als "Modewein", heute geschätzt für seine Vielseitigkeit. Wiener Chardonnay zeigt weniger Holz als seine französischen Verwandten, mehr Frucht und Frische.

Bei den Roten dominiert Pinot Noir, hier Blauer Burgunder genannt. Ein schwieriger Geselle, aber in guten Händen ein Gedicht. Wiener Pinot Noir zeigt Eleganz statt Kraft, Finesse statt Alkohol.

Neue Sorten kommen dazu. Sauvignon Blanc bringt tropische Noten, Merlot südländische Würze. Der Klimawandel macht es möglich. Wien wird wärmer, die Vegetationszeit länger. Was früher unmöglich schien, gelingt heute spielend.

Grinzing: Tourist oder nicht Tourist?

Grinzing spaltet die Wiener. Die einen meiden es wie die Pest, die anderen verteidigen es wie ihre Ehre. Beide haben recht. Grinzing ist Touristenattraktion und authentischer Heurigenort zugleich.

Hier oben, wo die Straßenbahn endet und der Himmel anfängt, herrscht eigene Zeitrechnung. Hektik ist verpönt, Eile verdächtig. Wer hier hinaufkommt, lässt die Stadt unter sich – geografisch und mental.

Der Fuhrgassl-Huber ist Institution. Seit 1906 schenkt die Familie aus, mittlerweile in vierter Generation. Der Gastgarten fasst 800 Gäste, wirkt trotzdem gemütlich. Kastanienbäume spenden Schatten, Wienerlieder Atmosphäre. Touristen gibt es viele, aber auch Einheimische. Die erkennt man am entspannten Gehabe und der Tatsache, dass sie nicht fotografieren.

Das Weingut Zimmermann beweist: Tradition und Innovation vertragen sich. Seit 1678 wird hier Wein gemacht, heute mit modernster Technik. Der Glasgang zwischen alter und neuer Kellerei zeigt drei Jahrhunderte Weinbaugeschichte. Hier wird Geschichte nicht museal präsentiert, sondern gelebt.

Wer Grinzing authentisch erleben will, kommt unter der Woche. Dann trinken hier Pensionisten ihren Viertel, plaudern Nachbarn über das Wetter, spielen Kinder zwischen den Tischen. Diese Szenen fotografiert niemand, aber sie zeigen das wahre Grinzing.

Sievering und Nußdorf: Die Alternativen

Sievering ist das bessere Grinzing. Ruhiger, ursprünglicher, weniger tourismusverseucht. Hier trinken echte Wiener, hier funktioniert Heurigenkultur ohne Folklore.

Beim Buschenschank Wieninger treffen sich Kenner. Der Hausherr macht Wein, seit er denken kann, seine Frau kocht, seit sie kochen kann. Mehr braucht ein Heuriger nicht. Die Brettljause ist üppig, der Wein ehrlich, die Preise fair.

Nußdorf liegt direkt an der Donau. Hier kann man Wein trinken und Schiffe schauen. Die Heurigen sind kleiner als in Grinzing, familiärer als in Sievering. Hier grüßt noch jeder jeden, hier kennt der Wirt seine Gäste beim Namen.

Bei Mayer am Pfarrplatz komponierte Beethoven seine "Pastorale". Heute residiert hier ein Heuriger, der Geschichte atmet. Die Räume sind original erhalten, die Atmosphäre authentisch. Hier trinkt man nicht nur Wein, hier trinkt man Geschichte.

Die Neuen: Moderne Weingüter

Das Weingut Cobenzl thront über Wien wie ein Adlerhorst. Von hier sieht die Millionenstadt aus wie ein Spielzeug. Unten wuselt das Leben, oben herrscht Ruhe. Diese Ruhe schmeckt man in den Weinen: konzentriert, klar, ohne Getöse.

Das Restaurant Cobenzl kombiniert Aussicht mit Genuss. Hier speist man mit Blick auf ganz Wien, trinkt Weine aus den Reben vor der Haustür. Die Küche ist gehoben ohne abgehoben zu sein, die Weinkarte eine Hommage an Wien.

Das Weingut Christ in Jedlersdorf zeigt, wie moderner Weinbau funktioniert. Computer steuern die Gärung, Sensoren überwachen die Temperatur, Roboter füllen die Flaschen. Trotzdem wird per Hand gelesen, per Fuß getreten, per Geschmack entschieden. Technik dient dem Wein, nicht umgekehrt.

Die Familie Christ wagt Experimente. Sauvignon Blanc aus Wien? Gibt es. Merlot aus Österreich? Auch. Der Klimawandel macht vieles möglich, was früher undenkbar war. Die Winzer nutzen diese Chance behutsam, aber entschlossen.

Stadtvinothek: Wien im Glas

Die Stadtvinothek am Stadtpark ist Wiens Weinzentrale. Hier gibt es alle Wiener Weine unter einem Dach, von günstig bis exklusiv, von klassisch bis experimentell. Die Verkäufer sind Experten, die Beratung kostenlos, das Angebot überwältigend.

Jeden Freitag finden Verkostungen statt. Ein Winzer stellt seine Weine vor, erzählt seine Geschichte, lässt probieren. Diese Abende sind Pflichttermin für Wiener Weinliebhaber. Hier erfährt man mehr über Wein als in jedem Buch.

Weintouren: Mit dem Experten durch die Reben

Vienna Wine Tours macht aus Laien Liebhaber. Die Guides kennen jeden Winzer, jeden Weinberg, jede Geschichte. Sie führen dorthin, wo Reiseführer schweigen: in private Keller, zu versteckten Heurigen, zu den besten Aussichtspunkten.

Die beliebteste Tour führt zum Nußberg. Von hier sieht man, wie nah Stadt und Land sich sind. Unten die Straßenbahn, oben die Reben. Dazwischen ein paar hundert Meter und Welten.

Die Verkostungen sind professionell organisiert. Jeder Wein wird erklärt, jede Besonderheit erläutert. Man lernt zu riechen, zu schmecken, zu bewerten. Nach einer Tour versteht man Wein anders als vorher.

Die Wiener Weinakademie geht noch weiter. Hier gibt es Kurse für Anfänger und Fortgeschrittene, Seminare für Profis und Interessierte. Die Dozenten sind Sommeliers, Önologen, Winzer. Sie vermitteln nicht nur Wissen, sondern Leidenschaft.

Praktisches: Wie, wann, wo?

Wien verkostet sich am besten von April bis Oktober. Dann sind die Heurigen offen, das Wetter mild, die Stimmung heiter. Im Winter haben nur wenige Betriebe geöffnet, dafür ist mehr Zeit für Gespräche.

Reservieren ist klug, besonders am Wochenende. Spontanbesuche klappen selten, Enttäuschungen sind programmiert. Größere Gruppen müssen anmelden, bekommen dafür oft Sonderkonditionen.

Die Anreise gelingt problemlos mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Die Straßenbahn 38 fährt nach Grinzing, die S-Bahn nach Nußdorf. Autofahrer finden Parkplätze, sollten aber bedenken: Auch in Wien gilt die Promillegrenze.

Die Preise sind moderat. Ein Viertelliter Wein kostet drei bis sechs Euro, eine Jause für zwei Personen zehn bis fünfzehn Euro. Teure Touristenfallen erkennt man an mehrsprachigen Speisekarten und Reisebussen vor der Tür.

Trinkgeld ist üblich, aber nicht verpflichtend. Zehn Prozent sind angemessen, mehr überflüssig. Bezahlt wird meist bar, Kreditkarten akzeptieren nur größere Betriebe.

Die Jause: Essen zum Wein

Wiener Heurige schenken nicht nur aus, sie speisen auch auf. Kalte Küche nur, so will es das Gesetz. Aber was für eine Küche! Die Brettljause ist ein Kunstwerk aus Speck, Käse, Schmalzbrot und Gurken.

Liptauer ist Pflicht: ein Aufstrich aus Topfen, Zwiebeln und Paprika. Verhackertes folgt: gehackter Speck mit Zwiebeln. Grammeln dürfen nicht fehlen: ausgelassene Speckwürfel, knusprig und deftig.

Die Portionen sind üppig, die Qualität meist hervorragend. Viele Heurige beziehen ihre Zutaten von lokalen Produzenten, manche stellen selbst her. Industrieware ist verpönt, Handwerk geschätzt.

Moderne Heurige erweitern das Angebot. Saiblingsfilet mit Erdäpfelsalat, Wiener Schnitzel mit Preiselbeeren, sogar vegetarische Gerichte gibt es. Die Qualität bleibt hoch, die Preise fair.

Gehobene Restaurants haben Wiener Wein entdeckt. Im Steirereck trinkt man Grünen Veltliner zu gebeiztem Saibling, im Opus Riesling zu Gänseleberpastete. Diese Kombinationen funktionieren, weil Wiener Weine Charakter haben ohne zu dominieren.

Höhepunkte: Wenn Wien feiert

Der Wiener Weinwandertag im September ist Pflichttermin. Dann öffnen alle Weingüter, alle Keller, alle Herzen. Zehntausende pilgern von Heuriger zu Heuriger, probieren, plaudern, feiern. Die Stimmung ist ausgelassen, die Organisation perfekt.

Eine Weinwanderkarte kostet zwanzig Euro und berechtigt zu Gratisverkostungen in allen teilnehmenden Betrieben. Der öffentliche Verkehr wird verstärkt, Shuttlebusse verkehren zwischen den Weinorten. Wer alles sehen will, startet früh und plant strategisch.

Die Weinlese im Herbst ist ein besonderes Erlebnis. Viele Winzer suchen Helfer, bieten im Gegenzug Kost, Logis und Wein. Die Arbeit ist hart, die Atmosphäre einzigartig. Hier lernt man Wien von seiner ursprünglichsten Seite kennen.

Private Kellerführungen sind Geheimtipp für Kenner. Winzer führen persönlich durch ihre Keller, lassen seltene Weine probieren, erzählen Geschichten aus dem Nähkästchen. Diese Führungen muss man erfragen, planen, organisieren. Aber sie lohnen jede Mühe.

Insider-Wissen: Was Wiener wissen

Echte Wiener meiden Grinzing am Wochenende. Sie fahren unter der Woche hin oder weichen aus nach Stammersdorf. Dort ist es ruhiger, authentischer, günstiger. Der Wein schmeckt genauso gut, die Atmosphäre ist echter.

Nachmittags ist besser als abends. Zwischen drei und sechs Uhr sind die Heurigen entspannt, der Service aufmerksam, die Stimmung gemütlich. Abends kommen die Gruppen, wird es laut, verschwindet die Intimität.

Weinschorle bestellt kein Wiener. Wein trinkt man pur oder gar nicht. Wasser gibt es gratis dazu, aber gemischt wird nicht. Diese Regel ist ungeschrieben, aber eisern.

Der Heurigenkalender ist heilig. Ohne grünen Zweig ist zu, egal was passiert. Diese Tradition gilt seit Jahrhunderten, auch Touristen müssen sie respektieren.

Wer wie ein Einheimischer wirken will, grüßt mit "Servus" und verabschiedet sich mit "Baba". "Danke schön" statt "Danke", "Bittschön" statt "Bitte". Kleine Höflichkeiten öffnen große Herzen.

Zukunft: Wohin Wien trinkt

Wien entwickelt sich weiter als Weinstadt. Die Qualität steigt, die Anerkennung wächst, die Tradition bleibt lebendig. Wiener Weine gewinnen internationale Preise, erobern ausländische Märkte.

Der Klimawandel bringt Chancen und Risiken. Wärmere Sommer ermöglichen neue Rebsorten, längere Vegetationszeiten verbessern die Qualität. Gleichzeitig steigt das Risiko von Extremwetter. Die Winzer rüsten sich mit Hagelnetzen und Beregnungsanlagen.

Die Stadt unterstützt ihre Winzer. Förderungen gibt es für biologischen Anbau, Kellersanierungen, Qualitätsverbesserungen. Wien ist stolz auf seine Winzer – zu Recht.

Neue Generationen übernehmen die Betriebe. Jung, gut ausgebildet, weltoffen. Sie respektieren die Tradition, scheuen aber keine Innovation. Diese Mischung verspricht eine goldene Zukunft für den Wiener Wein.

Das Fazit: Wien trinkt, also ist es

Wien ohne Wein wäre wie Paris ohne Parfüm: möglich, aber sinnlos. Diese Stadt hat verstanden, was andere nur ahnen: Genuss ist keine Sünde, sondern Kunst. Weinkultur ist nicht Alkoholismus, sondern Lebensfreude.

Wer Wien besucht und nur Schönbrunn und Stephansdom abhakt, verpasst das Wesentliche. Wien lebt nicht von seinen Steinen, sondern von seiner Seele. Und die offenbart sich nirgends deutlicher als in den Heurigen, Weingärten und Vinotheken.

Eine Weinverkostung in Wien ist Kulturprogramm. Hier trifft man nicht nur Reben, sondern Menschen. Nicht nur Wein, sondern Weisheit. Nicht nur Alkohol, sondern Atmosphäre. Wien trinkt – und wird dabei schöner, entspannter, menschlicher.

Wer das einmal erlebt hat, versteht die Wiener. Sie haben das Leben verstanden: Es ist zu kurz für schlechten Wein und zu kostbar für schlechte Laune. In diesem Sinne: Prost! Oder wie der Wiener sagt: Zum Wohl!